Warum SAGO?

Warum SAGO?

"Sechzehn Gedanken zu Sago" – von Martin Betz

Was wir bei Sago machen? Wir beschäftigen uns gegenseitig mit einigen unserer allersensibelsten Partien.

Daß ein Mensch hochempfindliche und weniger empfindliche Stellen aufweist, gilt ja nicht nur für seinen Körper. Es gilt ebenso für seine Persönlichkeit. 

Ein Lied, das ich neu fertiggestellt hab, zählt zu den sensibelsten Bereichen meiner Person. Schmerzlich verletzt es mich, wenn mein Lied grob behandelt wird. Nichts darf ihm zustoßen, es ist ja noch nicht gefestigt. 

Und diese empfindlichen Teile legen wir Sagos offen, zeigen sie einander, lassen die anderen da hineingreifen.

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Warum nur?

Im Konzert, vor richtigem Publikum, hat mein Lied schönen Applaus erhalten. Nun bring ich´s aufs Seminar, da wird es zerpflückt. Von schlechtgelaunten Liederhassern, die sich Sago nennen. 

Wieso zerpflücken die mein Lied? Ausgerechnet die – die machen doch selbst Lieder! Die müssen doch wissen, wie das ist, zerpflückt zu werden! Oder werd nur ich zerpflückt, und die kennen das gar nicht?

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Doch, die kennen das. Die kennen aber auch andere Situationen – etwa diese:

Mein Auftritt im Konzert, vor richtigem Publikum, kommt überhaupt nicht an. Gerade das Lied, von dem ich mir so viel erhofft habe, fällt durch. Das Publikum mag mich nicht, schweigt nur, schließlich verwandelt sich das Desinteresse in zunehmende Unruhe. Woran liegt´s?

Vermutlich werde ich´s nie erfahren. Als ich nach dem Auftritt aus der Garderobe komme, ist das Publikum weg. 

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Eins der Bilder, die Christof Stählin bei Sago an die Tafel malte, zeigt Zahnräder im Zusammenwirken. 

Was ist ein Zahnradgetriebe? Eine Gruppe mit intimer gegenseitiger Anteilnahme. Zahnräder befinden sich „im Eingriff“ miteinander, als Zahnrad muß ich mir gefallen lassen, daß der Nachbar meinen Aktionskreis betritt, seine Verzahnung in meinen Radius reinstreckt. 

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Nun hat Christof dieses Bild in zwei Varianten skizziert. In der ersten weist jedes Rad seine eigene Zahngröße und Zahnform auf. Die Zähne passen nicht zueinander. Dieses Getriebe kann nur mangelhaft Kraft übertragen, die Räder verschleißen rasch, es kommt zu Reibereien und Hitze. 

In der zweiten Variante zeigen alle Räder einheitliche Zahnung.
Nun klappt´s mit der Übertragung, ohne große Verluste, ohne viel Reiberei. 

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Der Vortragende will sein Publikum in Bewegung versetzen. Das heißt, er verkörpert ein Antriebs-Zahnrad, das seine Energie auf die Publikums-Zahnräder übertragen will. 

Da ich nun überhaupt nicht ankomme:

Offensichtlich stimmen meine Zahnradprofile mit denen des Publikums nicht überein. Irgendwas passt nicht. Aber was? Das Vortragstempo, der Klang meiner Stimme, der Tonfall meiner Moderationen? 

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Gelingt es mir, direkt vorm Publikum dessen Zahnprofile zu ergründen? Wenn´s gut läuft, ja; im Normalfall: nein. Vertrauen darf ich darauf, daß das Publikum seinerseits neugierig ist, mein Profil zu ergründen: Ist das ein grobverzahntes Urviech? Oder was Feinverzahntes?

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Mein Auftritt kommt nicht gut an. Das Publikum haut nicht ab, es denkt gar nicht daran. Vielmehr stürzt es sich auf mein Lied und benennt die Stellen, die ihm nicht passen. Ich bin auf dem Sago-Seminar.

Sagos sind Zahnräder, die einander die Zähne zeigen, sie einander spüren lassen.

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Mit-Sagonauten sind Publikums-Zahnräder, die mich ihr Profil erkennen lassen. Und die mir Rückmeldung darüber geben, wie sich mein Profil ihnen darstellt. Solche Transparenz erinnert mich an die großen Automodelle, wie sie manchmal noch im Schaufenster von Fahrschulen zu finden sind: deren Kolben, Pleuel und Getrieberäder sich offen präsentieren. 

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Bilden die Sago-Kollegen ein weniger dankbares Publikum als die Nicht-Sago-Menschen draußen? Womöglich. Jedenfalls werden sie mir ihre Kritik direkt mitteilen. 

Nach einigen Jahrzehnten Sago-Erfahrung sage ich: Wenn eine Sago-Kritikrunde mich verreissen sollte, ist mir das lieber, als wenn ein Poetryslam-Publikum mich ausbuht – oder, schlimmer noch, mich anschweigt.  

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Aus zwei Gründen.

Erstens, wie oben gesagt: Kollegen sind das, das heißt, die sind auch schon in meiner Lage gewesen, die wissen, wie das ist. 

Zweitens: Daß sie versuchen, Unbehagen, das sie bei meinem Lied empfinden, in Worte zu kleiden, verdient Anerkennung. Weil es gar nicht einfach ist. Weil es selbst Formulier-Kunst bedeutet – und nicht die geringste. 

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Ein Liedtext, der seine Kritik zu hören bekommt, sagt: „Das ist doch Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch.“ Er besteht aus Wörtern und Sätzen, seine Kritik ebenfalls. Texter und Kritiker, beide arbeiten in demselben Material. Der Ölmaler werkelt nicht in solcher Nähe zu seinem Kritiker, auch Choreograph oder Architekt tun´s nicht. 

Wenn ein Songtexter Kritik formuliert, schult ihn das in seinem eigenen Fach: im verbalen Formulieren. Der Ölmaler, der Herrn Rembrandt kritisiert, wird dadurch nicht notwendig besserer Ölmaler. Aber wenn ich als Songtexter Liedtexte kritisiere, trainiert mich das als Songtexter. Während ich in der Kritikrunde rede, motzt meine innere Stimme: „Faß dich kurz! Komm auf den Punkt!“ Kritikrunden sind Schreibtraining – vielleicht für den, der kritisiert wird; mit Sicherheit für die, die kritisieren.

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Eins noch. Es sind auch schon Lieder gelobt worden bei Sago.